Legasthenie – Symptomatik, Ursachen, Therapie

1. Was ist Legasthenie?

Unter einer Legasthenie versteht man große bis sehr große Schwierigkeiten beim Erwerb des Lesens und Schreibens. Trotz ausreichender schulischer Förderung und ausreichender Intelligenz weisen die betroffenen Kinder im Lesen eine deutlich erhöhte Lesezeit bzw. zahlreiche Lesefehler auf. Leseanfänger haben dabei auch oft Probleme die Buchstaben zusammenzuschleifen bzw. die Laute den einzelnen Graphemen richtig zuzuordnen. Im Schreiben zeigt sich die Legasthenie in einer deutlich erhöhten Fehlerzahl.

Paul Ranschburg

Der Begriff Legasthenie wurde von dem Neurologen Paul Ranschburg im Jahre 1916 eingeführt. Im Jahr 1928 publizierte der die Monografie „Die Lese- und Schreibstörung des Kindesalters“ mit einigen Fallbeschreibungen und empirischen Daten.

In der seriösen Forschung der Legasthenie werden aktuell neurologische, psychologische und pädagogische Aspekte unter der Berücksichtigung genetischer Faktoren zu einem multikausalen Bedingungsmodell der Legasthenie integriert. Die Hauptursache der Legasthenie wird dabei in einer defizitären auditiven Verarbeitung gesehen. Visuelle Faktoren spielen in aktuellen Ätiologiemodellen eher eine geringere Rolle.

Die Therapie setzt in der Regel direkt am Lese- und Rechtschreibprozess an. Eine Therapie dauert zwischen einem und drei Jahren. Durch ein intensives Training können spürbare Fortschritte erzielt werden. Aber auch nach einer erfolgreichen Therapie liegen die Lese- und Rechtschreibleistungen unter dem Durchschnitt.

2. Symptomatik der Legasthenie

Im Bereich Lesen weisen die Kinder in der Regel eine deutlich erhöhte Lesezeit auf, die durch zahlreiche Lesefehler gekennzeichnet ist. Bei sehr schwerer Symptomatik können auch leichtere Texte nicht erlesen werden. Sehr oft raten die Kinder beim Lesen, um ihre Lesegeschwindigkeit zu erhöhen. Oft kommt es zu Auslassungen von Endungen oder ganzen Wörtern. Lesefehler zeigen sich weiterhin in Buchstabenverwechslungen oder Verwechslungen von Morphemen. Manche Kinder versuchen, wenn sie ihre Lesefehler bemerken, diese zu korrigieren, andere Kinder lesen darüber einfach hinweg.

Im Bereich der Rechtschreibung zeigen sich zahlreiche Rechtschreibfehler, die verschiedenen Fehlertypen zugeordnet werden können. Hier finden sich zum Beispiel Auslassungen von hörbaren Buchstaben, Verwechslungen von ähnlich klingenden Buchstaben (g/k oder n/m) und zahlreiche Verstöße gegen die orthografischen Rechtschreibregeln (z.B. sumen anstatt summen).

 3. Legasthenie im ICD-10

ICD-10 Taschenbuchausgabe von 1999

Im ICD-10 wird Legasthenie als Lese- und Rechtschreibstörung mit der Ziffer F81.0 kodiert. Die Lese- Rechtschreibstörung wird dabei von einer Lese- und Rechtschreibschwäche unterschieden, die per Definition das Ergebnis einer mangelnden Beschulung bzw. schlechten Lernbedingungen darstellt. Bei entsprechender Übung – so der ICD-10 – können die Lese- und Rechtschreibprobleme bei einer Lese- und Rechtschreibschwäche zügig aufgeholt werden. Unglücklicherweise werden die Begriffe Lese- und Rechtschreibstörung sowie Lese- und Rechtschreibschwäche beide mit LRS abgekürzt, sodass es bei (eher theoretischen) Diskussionen zu Unschärfen in der Begriffsbestimmung kommen kann.

Im ICD-10 wird die Lese- und Rechtschreibstörungen (F81.0) von der isolierten Rechtschreibstörung (F81.1) unterschieden.

KodierungDiagnoseBeschreibung
F81.0Lese- RechtschreibstörungProbleme im Lesen und im Schreiben
F81.1Isolierte RechtschreibstörungProbleme im Schreiben
Störungen im ICD 10

4. Diagnostik der Legasthenie

Im Rahmen der Diagnostik der Legasthenie wird ein normierter Rechtschreibtest, ein Lesetest und ein Intelligenztest durchgeführt. Die Ergebnisse werden miteinander verglichen und eine Differenz der T-Werte zwischen den Leistungstests und dem Intelligenztest von mindestens 10 Punkten erwartet (Diskrepanzkriterium). Zusätzlich müssen die Lese- und/oder die Rechtschreibleistungen entsprechend schwach ausfallen. Eindeutige Grenzwerte für die Testleistungen ab denen man von einer Legasthenie sprechen sollte existieren nicht.

Testhefte der Hamburger Schreibprobe

Gängige Rechtschreibtests sind der WRT, DRT und HSP, die für die verschiedenen Klassenstufen vorliegen. Bei den Lesetests dominieren der ZLT-II (Zürcher Lesetest) und der SLRT-II (Salzburger Lese- und Rechtschreibtest), aber auch der ELFE-II wird regelmäßig eingesetzt. Häufig verwendete Intelligenztests sind der WISC-V (früher: HAWIK), der K-ABC und der CFT.

Neben der Durchführung der genannten Tests ist eine ausführliche Anamnese ein wichtiger Baustein in der Diagnostik. Hier wird der bisherige Verlauf des Lese- und Rechtschreiberwerbs betrachtet und untersucht, ob beispielsweise Konzentrationsprobleme oder andere Faktoren vorliegen, die die Lese- und Rechtschreibproblematik ebenfalls erklären könnten.

Für eine detaillierte Therapieplanung kann auch der BAKO 1-4 (Basiskompetenzen für Lese-Rechtschreibleistungen) eingesetzt werden, der den Grad der phonologischen Bewusstheit vom ersten bis zum vierten Schuljahr erfasst. Bei Schwächen in diesem Bereich sollten noch entsprechende Maßnahmen zur Förderung der phonologischen Bewusstheit (z.B. Phonit) durchgeführt werden. Die Benennungsgeschwindigkeit kann mit einem Untertest im ZLT-II bestimmt werden.

Bei allen Kindern mit Legasthenie empfiehlt es sich zu Therapiebeginn eine qualitative Fehleranalyse durchzuführen, um spezifische Schwierigkeiten des Kindes im Lese- und Rechtschreibbereich zu erkennen. Im Bereich Rechtschreibung sollte mindestens die Rechtschreibstufe (alphabetische bzw. orthografische Stufe) bestimmt werden. Eine genauere Analyse ist gelegentlich recht interessant, da einige Kinder kein ausgeglichenes Fehlerprofil aufweisen, sondern über ganz spezifische Schwierigkeiten verfügen (z.B. sehr viele Fehler in der Groß- und Kleinschreibung). Für eine Fehleranalyse der Rechtschreibung kann beispielsweise die OLFA verwendet werden.

Für die Fehleranalyse im Lesen stehen deutlich weniger Verfahren zur Verfügung. Einen recht guten Einblick in die qualitative Fehlerdiagnostik des Lesens bietet beispielswese die Münchner Leseanalyse.

Zur Erfassung der psychischen Sekundärsymptomatik bei Legasthenie haben sich der „Angstfragebogen für Schüler“ von Wieczerkowski et al. und der „Depressionstest für Kinder“ von Peter Rossmann als hilfreich erwiesen. Der geübte Diagnostiker wird auch Gewinn aus der Verhaltensbeobachtung und der Fremdanamnese (Eltern/Lehrer) ziehen. Insbesondere die Elternanamnese ist für die psychische Sekundärsymptomatik oft recht aufschlussreich.

Um den allgemeinen Schweregrad und dessen Therapierbarkeit abzuschätzen, sollte auch nach nach früheren und aktuellen therapeutischen Maßnahmen (z.B. Ergotherapie, Logopädie, Psychotherapie, Frühförderung) gefragt werden.

5. Diskussion um den Begriff Legasthenie

Vor ca. 30 bis 40 Jahren gab es insbesondere im pädagogischen Bereich heftige Auseinandersetzungen über die Existenz einer (neurologisch bedingten) Legasthenie, die in der Hypothese gipfelte, Legasthenie sei nicht existent (Anti-Legasthenie Bewegung). Die Ursachen für die zum Teil hitzigen Debatten fanden sich in der Ablehnung der medizinischen Terminologie und des Krankheitskonzepts. Der Begriff wurde durch den der Lese-Rechtschreib-Schwäche (abgekürzt mit LRS), der als weniger diskriminierend empfunden wurde.
Entsprechend der damaligen pädagogischen Konzepte wurden als maßgebliche Ursachen für die Schwierigkeiten im Lese- und Rechtschreiberwerb suboptimale Lernbedingungen und psychische Faktoren angesehen, die das Kind in seiner Entwicklung blockierten. Eine Ursache der Problematik in neurologischen Dysfunktionen lese- und rechtschreibrelevanter Gehirnbereiche wurde hingegen heftig bestritten. Dies änderte sich jedoch, als Forschungsergebnisse immer häufiger zeigen konnten, dass neurologische Faktoren und genetische Aspekte am ätiologischen Bedingungsmodell eine wichtige Rolle spielen.

6. Ursachen der Legasthenie

Da der Leseprozess sehr komplex ist und entsprechend aus zahlreichen kognitiven Prozessen besteht, verwundert es nicht, dass man nicht die eine Ursache für die Legasthenie gefunden hat. Vielmehr ist davon auszugehen, dass bei jeder Person mit Legasthenie sich ein anderes  kognitives Profil findet, das für die Lese- und Rechtschreibproblematik verantwortlich gemacht werden kann.

Ursachen, für die sich zahlreiche Forschungsbefunde finden, sind beispielsweise Defizite in der phonologischen Bewusstheit, im Arbeitsgedächtnis, bei der Benennungsgeschwindigkeit, bei der zeitlichen auditiven Verarbeitung sprachlicher Reize, Schwierigkeiten beim Erlernen der Laut-Buchstaben-Beziehungen, beim Abspeichern von Silben, Morphemen und Wörtern und auffällige Augenbewegungen. Weiterhin zeigen sich auch Defizite beim Wortschatz, beim orthografischen Lexikon und beim impliziten Lernen.

Für die ätiologischen Faktoren der Rechtschreibproblematik werden die selben Faktoren diskutiert wie für den Bereich des Lesens.

7. Therapie

Die Therapie der Legasthenie setzt in der Regel direkt am Lese- und Rechtschreibprozess an. Für diese Vorgehensweise zeigten sich die größten Fortschritte im Lesen und Schreiben.

7.1 Therapie der Rechtschreibung

7.1.1 Laut-Graphem-Beziehungen

Falls noch Unsicherheiten in den Laut-Buchstaben-Beziehungen bestehen, müssen diese zuerst geübt werden. In der Regel werden die meisten Laut-Buchstaben-Beziehungen beherrscht, es finden sich aber bei jüngeren Kindern oft noch Schwierigkeiten bei einzelnen Laut-Graphem-Verbindungen (z.B. qu, st, sp). Diese können beispielsweise mit der Lernkartei eingeübt werden.

7.1.2 Training des lautgetreuen Schreibens

Im Anschluss wird dann das das lautgetreue Schreiben (alphabetische Rechtschreibstufe nach Frith) trainiert. Das lautgetreue Schreiben kann gut durch das synchrone Sprechschreiben geübt werden. Weiterhin finden sich auch zahlreiche gute Übungen im Trainingsprogramm Budenberg

7.1.3 Üben der orthografischen Rechtschreibstrategie

Regelblatt aus dem Münchner Rechtschreibtraining

Zeigen sich ausreichend gute Fortschritte bei der alphabetischen Rechtschreibstrategie müssen Übungen für die orthografische Rechtschreibstufe durchgeführt werden. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass man mit den Schülern einzelne Lösungsstrategien für spezifische Fehlerbereiche (z.B. Mitlautverdopplung) trainiert. Hier können beispielsweise Programme wie das Marburger Rechtschreibtraining oder das Münchner Rechtschreibtraining eingesetzt werden.

Da die Rechtschreibung nicht für alle Wörter über Rechtschreibregeln gelöst werden kann, (was auch viel zu zeitaufwändig wäre) werden sogenannte Merkwörter über die Lernkartei auswendig gelernt. Eine motivierende Umsetzung des Karteikastens für den PC gibt es mit dem Programm GU1

Weitere bekannte Trainingsprogramme für die orthografische Rechtschreibstufe stammen von Reuter-Liehr. Recht bekannt und brauchbar sind auch die Trainingsmaterialien, die sich auf das FRESCH-Konzept beziehen.

7.1.4 Training der morphematischen Rechtschreibstrategie

Das Programm Wortbautraining

Programme für das Training von Morphemen (Wortstämme, Vorsilben, Suffixe) gibt es deutlich weniger. Eine gute Empfehlung stellt hier das Programm Wortbautraining dar. Bei diesem Trainingsprogramm müssen Wörter aus Vor- und Nachsilben gebildet werden. Ein weiteres Trainingsprogramm zur Verbesserung der morphematischen Rechtschreibstrategie stammt von Kargl und Purgstaller und heißt MORPHEUS:

7.2 Therapie des Lesens

Hier werden häufig Silben oder Morpheme automatisiert und ein segmentierender Lesestil eingeübt. Auch das Auswendiglernen von häufig vorkommenden Wörtern kann sinnvoll sein. Für alle einzelnen Bereiche stehen verschiedene Trainingsprogramme zur Verfügung. So kann zum Beispiel der Kieler Leseaufbau für das Automatisieren von Silben und das Programm BLIWO für das Lernen von Signalgruppen verwendet werden. Die Anzahl der verfügbaren Trainingsprogramme für das Lesen ist deutlich geringer als für das Schreiben. Eine gute Beschreibung des Vorgehens zur Verbesserung des Lesens findet sich unter dem angegebenen Link.

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