Bezug auf IQ in der LRS-Diagnostik ist theoretisch nicht fundiert

Ein entscheidendes Kriterium für die Legastheniediagnose ist eine ausreichend große Diskrepanz zwischen den Lese- und Rechtschreibwerten und den Ergebnissen eines Intelligenztests. Die Idee dahinter ist, dass der Intelligenzwert einen Hinweis für die zu erwartenden Lese- und Rechtschreibwerte bietet und falls diese beim Kind nicht gemessen werden, man von erwartungswidrigen Lese- und Rechtschreibwerten sprechen kann.

Die Diskrepanzkriterium wird von zahlreichen Fachleuten, die sich mit der LRS-Diagnostik beschäftigen, kritisiert. Hauptkritikpunkt ist dabei, dass – wider Erwarten – Intelligenz und Leserechtschreibleistungen inhaltlich eher gering korrelieren, d.h. z.B. gute Leseleistungen hängen nicht mit einem hohen IQ zusammen und umgekehrt. Daraus ergibt sich, dass der Intelligenzwert kein gutes Maß darstellt, auf das man im Rahmen der LRS-Diagnostik beziehen sollte, um Aussagen über zu erwartende Lese- und Rechtschreibleistungen zu treffen.

In den USA haben Hiroko Tanaka und Jessica Black vom Interdisciplinary Brain Sciences Research der Universität in Stanford mit weiteren Wissenschaftlern zu dieser Thematik eine interessante Studie durchgeführt. Sie verglichen leseschwache Schüler, die das Diskrepanzkriterium erfüllten (diskrepante leseschwache Schüler, DLS) mit leseschwachen Schülern (LS), die nicht über einen ausreichenden Unterschied zwischen ihren Lese- und Intelligenzwerten aufwiesen, bei der Bearbeitung einer Lese- und Reimaufgabe. Alle Schüler bearbeiteten eine Aufgabe am PC, bei der visuell präsentierte Wörter daraufhin untersucht werden mussten, ob sich diese reimen. Währenddessen wurden für das Lesen relevante Gehirnbereiche mittels einer MRT (Magnetresonanztomografie) untersucht. Neben den beiden Gruppen mit den leseschwachen Schülern wurde eine weitereGruppe mit Schülern gebildet, die hinsichtlich des Lesens und Schreibens keinerlei Auffälligkeiten zeigten.

Tanaka et al. interessierten sich nun dafür, ob und welche Aktivitätsunterschiede sich im MRT-Bild bei der Bearbeitung der Aufgabe am PC zeigten. Sollten sich Unterschiede im MRT zwischen den Schülern der DLS-Gruppe und der LS-Gruppe zeigen, wäre das ein Hinweis dafür, dass sich die beiden Gruppen qualitativ unterscheiden, z.B. auch hinsichtlich ihrer Ätiologie. Sollte dies so sein, wäre das Diskrepanzkriterium ein gutes Merkmal, verschiedene Gruppen von leseschwachen Schülern zu bilden.

Wie zu erwarten, zeigten die Schüler der Kontrollgruppe die besten Leistungen in der Bewertungsaufgabe am PC. Die Schüler der LS-Gruppe unterschieden sich von den Schülern der DLS-Gruppe nicht. Im MRT zeigte sich zwischen den leseschwachen Schülern und den leseschwachen Schülern, die das Diskrepanzkriterium erfüllen kein Unterschied. In beiden Gruppen zeigte sich eine verringerte Aktivierung im linken Lobulus parietalis inferior (LPI) und im linken Gyrus fusiformis (GF) im Vergleich zu den Schülern der Kontrollgruppe. Auch in weiteren Gehirnbereichen, die untersucht wurden, zeigten sich zwischen den Schülern der DLS-Gruppe und den Schülern der LS-Gruppe keine signifikanten Unterschiede. Weitere Bereiche, in denen sich die Schüler der Kontrollgruppe von den beiden leseschwachen Schülern unterschieden, waren der Gyrus frontalis inferior, das Caudate und der mittlere Gyrus temporalis.

Schließlich entwickelten Tanaka et al. noch ein Klassifikationsmodell, um normale Leser von leseschwachen Schülern der DLS-Gruppe zu unterscheiden. Wendete man dieses Klassifikationsmodell auf die nichtdiskrepanten leseschwachen Schüler an, wurden diese ebenfalls zu 81,3 Prozent der DLS-Gruppe zugeordnet. D.h. ein Klassifikationsmodell für eine der beiden Gruppen der leseschwachen Schüler passte auch für die Schüler der anderen Gruppe. Daraus lässt sich schließen, dass beide Gruppen leseschwacher Schüler sich hinsichtlich ihrer neurologischen Aktivität nicht unterscheiden.

In einer wichtigen Studie konnten die Wissenschaftler aus Stanford zeigen, das sich leseschwache Schüler von leseschwachen Schülern mit Diskrepanzkriterium in ihrer Gehirnaktivität bei leserelevanten Aufgaben nicht unterscheiden.In der aktuellen Ausgabe des Journals für Legasthenietherapie finden sich unter anderem die Hauptergebnisse einer Studie zu LRS-Risikokindern und zur Hemisphärenaktivität bei Legasthenie kurz beschrieben.

Quelle:
Tanaka, H. Black, J.M., Hulme, Ch., Stanley, L.M., Kesler, S.R., Whitfield-Gabrieli, S., Reiss, A.L., Gabrieli, J.D.E. & Hoeft, F. (2011). The brain basis of the phonological deficit in dyslexia is independent of IQ. Psychological Science, 22, 1442-1451.