Neuropsychologie von Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten

Die Neuropsychologie ist ein interdisziplinäres Teilgebiet der Psychologie und der Neurowissenschaften, das sich mit den Auswirkungen von Prozessen des zentralen Nervensystems auf das Verhalten beschäftigt. Im Bereich der Ätiologie der Lese-Rechtschreibstörung bedeutet dies in erster Linie Auffälligkeiten neuronaler Funktionen bei Personen mit Problemen im Lesen zu finden, um so die Ursachen der Problematik besser verstehen zu können. Wenn dann ein Buch zu dieser Thematik erscheint, ist das Interesse natürlich groß, denn Publikationen, die versuchen, dieses Wissen um dysfunktionale Prozesse im Gehirn bei Leseproblemen verständlich aufzubereiten, sind selten.

Nun ist ein Buch mit eben dieser Thematik erschienen und trägt den vielversprechenden Titel “Neuropsychologie von Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten” und widmet sich fast ausschließlich der Lese-Rechtschreibstörung und der Rechenstörung. Von daher hofft man auf ein interessantes Buch, insbesondere natürlich alle wissenschaftlich interessierten Fachkräfte im Bereich Legasthenie und Dyskalkulie.

Das Buch umfasst ohne Literaturanhang 83 Seiten und verfügt noch über einen recht brauchbaren Anhang mit Kopiervorlagen für die Diagnostik, einen tabellarischen Überblick über verfügbare Tests und ein etwas zu kompakt geratenes Glossar mit nur 18 Begriffen.

Die Autoren sind allesamt Psychologen, die nach ihrem Studienabschluss noch weiter an der Universität wissenschaftlich tätig waren. Dr. Angela Heine arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin, wie auch Verena Engel. Dr. Verena Thaler ist seit 2010 als akademische Lese-Rechtschreib-Therapeutin tätig, Dr. Barbara Fussenegger arbeitet als klinische Psychologin und Arthur M. Jacobs ist seit 2003 Professor für Allgemeine und Neurokognitive Psychologie, ebenfalls an der Universität in Berlin.

Das Buch umfasst insgesamt drei große Kapitel, nämlich mit 42 Seiten die Lese-Rechtschreibstörung, das 32 Seiten starke Kapitel “Rechenstörung” sowie auf sechs Seiten das Kapitel “Komorbide Störungen”.

Im ersten Kapitel zur Lese-Rechtschreibstörung wird zu Beginn auf die Symptomatik eingegangen und recht genau das Stufenmodell von Frith vorgestellt. Die Autoren führen dabei zwei neue Begriffe ein, nämlich den Begriff der “Frühen Symptomatik” mit Fehlern, die der alphabetischen Ebene zuzuordnen sind (z.B. Auslassungen von hörbaren Lauten) und den der “Späten Symptomatik” mit Fehlern der orthographischen Stufe (z.B. vergessen des Dehnungs-h). Es folgen einige Informationen zur Prävalenz und Geschlechterverteilung, wie auch in den anderen Unterkapiteln immer mit mehreren Verweisen auf entsprechen-de Studien.

Im Ätiologiekapitel findet sich eine Abbildung des Gehirns, auf dem drei wichtige Gehirnregionen des Lesens eingezeichnet und ihre Funktionen im Text beschrieben sind, nämlich der Umwandlung von Phoneme in Grapheme und der direkte Abruf aus dem orthographischen Lexikon. Dass hier letztlich das Zwei-Wege-Modell von Coltheart beschrieben wird ist gut, der Autor wird jedoch nicht genannt. Dabei ist dieses Modell das am häufigsten überprüfte Modell in LRS-Studien. Ein eigenes Unterkapitel bekommen dann jedoch die phonologische Defizithypothese und die Doppel-Defizithypothese von Wolf und Bowers. Im Unterkapitel “Alternative Defizithypothesen” finden sich noch eigene Absätze zur magnozellulären Defizithypothese und zur Kleinhirndefizithypothese. Zu neuropsychologischen Theorien der Legasthenie mit entsprechenden Befunden und Verweisen aus deutschsprachigen Studien finden sich also insgesamt sechs Seiten. Die Inhalte sind gut verständlich beschrieben. Ins Detail gehen die Ausführungen jedoch nicht.

Nach der Darstellung der neuropsychologischen Theorien finden sich auf 18 Seiten Informationen zur Diagnostik. Diese sind dabei vergleichweise recht ausführlich. So gehen die Autoren detailliert auf die Diagnostik mittels ICD-10 ein, stellen tabellarisch Fehlerkategorien der Rechtschreibung dar und beschreiben alle wichtigen Rechtschreibtests. Auch die Lesetests werden ausreichend genau beschreiben. Praktisch ist der tabellarische Überblick der Diagnostikinstrumente. Weiterhin widmen sich jeweils eigene Unterkapitel den Verfahren zur Messung des Leseverständnisses und zur Früherkennung von LRS. Insgesamt ein gelungenes Kapitel.

Es folgt die Darstellung der Therapie, die mit guten allgemeinen Hinweisen beginnt. So gehen Heine et al. auch auf Themen wie Psychoedukation ein, weisen auf die oft notwendige Entlastung von angespannten Situationen zwischen Eltern und Kind hin. Auch die Abbildung zu den Inhalten ist sehr gut und bein-haltet auch die Punkte, die Eltern betreffen und im Rahmen einer Therapie überprüft werden müssen.

Dann folgen Beschreibungen des Lesen lernens und für das lautgetreue Schreiben, das von den Autoren als Behandlung der “frühen Symptomatik” beschrieben wird. Hier finden sich Informationen z.B. über den Kieler Leseaufbau, den Kieler Rechtschreibaufbau oder auch die Leselernprogramme von Tacke. Für den Bereich der “späten Symptomatik”, also die Therapie der Fehler auf der orthographischen Stufe, finden sich u.a. Hinweise zu den Programmen GUT, das Morphemtraining Remo-2 von Prof. Walter und zum Marburger Rechtschreibtraining. Soweit vorhanden, fassen Heine et al. die Befundlage zu Effektivitätsstudien zusammen. Schließlich werden die vorhandenen Programme zum Leseverständnis und zur Frühförderung bewertet.

Der zweite große Bereich widmet sich der Rechenstörung und folgt dem gleichen Aufbau des Kapitels über die Lese-Rechtschreibstörung. Es werden die Symptome beschrieben, die ätiologischen Modelle dargestellt, die aktuellen Testverfahren genannt und die Therapie erläutert. Auch hier finden sich zahlreiche Hinweise zu Studien.

Das dritte Kapitel befasst sich mit der Komorbidität u.a. der von Legasthenie und Rechenstörung. Heine et al. erörtern in dem entsprechenden Unterkapitel Erklärungsmodelle für das häufige gemeinsame Auftreten, wie z.B. Arbeitsgedächtnisdefizite. Weiterhin werden die Komorbiditäten zu ADHS, Sprachentwicklungsstörungen und visuell-räumlichen Wahrnehmungsstörungen behandelt.

Insgesamt ist das Buch “Neuropsychologie von Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten” ein lesenswertes Buch mit kompakten Informationen über die Legasthenie. Zahlreiche Studienergebenisse wurden in den Text eingeflochten und sind von daher auch für erfahrene Leser im Bereich LRS interessant. Sämtliche wichtigen Punkte, wie beispielsweise die Kritik am Diskrepanzkriterium oder die phonologische Bewusstheit als Ansatzpunkt präventiver Maßnahmen werden genannt und kurz beschrieben. Fazit: Ein solides Grundlagenbuch auf gutem Niveau. Der Titel des Buches ließ jedoch auf noch mehr Neuropsychologie hoffen. Diese Erwartung erfüllt das Buch nicht.

Preis und Verfügbarkeit bei Amazon

Heine, A., Engl, V., Thaler, V.M., Fussenegger, B. & Jacobs, A. M. (2012). Neuropsychologie von Entwicklungsstörungen schuli-scher Fertigkeiten. Göttingen: Hogrefe Verlag.