Manfred Gerspach war bis Mitte 2014 Professor an der Hochschule Darmstadt im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und soziale Arbeit. Nun ist von ihm im Kohlhammer Verlag ein 213 Seiten starkes Buch mit dem Titel “Generation ADHS – den “Zappelphilipp” verstehen” erschienen. Das Hauptanliegen von Gerspach ist es, die neurophysiologischen Erklärungen durch pädagogische Erklärungsmodelle zu ersetzen. Hier greift Gerspach in erster Linie auf psychodynamische Theorien zurück. Den medikamentösen Therapieansätzen stellt der Autor pädagogische Antworten entgegen.
Eine Hypothese der Anhänger von psychodynamischen Erklärungsmodellen ist, dass die Hyperaktivität als “Hilfeschrei” für eine zugrunde liegende Problematik zu interpretieren sei, wie z.B. eine emotionale Frühverwahrlosung oder frühinfantile Traumen. Gerspach gibt in seinem Buch weitere Eklärungsansätze für ADHS, wie z.B., dass das auffällige Verhalten eines Kindes von sich streitenden Eltern funktionell sein könne. Das Kind ziehe z.B. durch sein hyperaktives Verhalten die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich und beende so die Streitereinen zwischen den Eltern.
Gerspach verweist auch auf die Bindungstheorie. Hier wird insbesondere der desorientierte /desorganisierte Bindungstyp in Zusammenhang mit ADHS-Verhaltensweisen gebracht. Bei diesem Bindungstypus gelingt es dem Kind nicht, die Mutter als sichere Basis zu nutzen, was die Grundlage dafür bilden kann, später Verhaltensauffälligkeiten zu entwickeln.
Im ersten Kapitel “Mythos ADHS” geht der Autor auf die Zunahme von ADHS-Diagnosen ein und liefert hierzu zahlreiche Zahlen. Ebenso wird die zunehmende medikamentöse Behandlung kritisiert und die Hypothese postuliert, dass die bisherige neuropsychologische Forschung nicht zu belastbaren Ergebnissen geführt habe.
Im zweiten Kapitel findet sich neben einer allgemeinen Kritik am Störungsbegriff die Darstellung der psychodynamischen Theorien für die ADHS-Symptomatik. Diese findet dabei sehr ausführlich statt und der Leser bekommt so einen guten Einblick in die psychodynamischen Erklärungsmodelle für ADHS bei Kindern.
Im dritten Kapitel “Offene Fragen – pädagogische Antworten” gibt es ein recht gutes Fallbeispiel und pädagogische Ansätze werden aufgezeigt. Lesenswert auch die Ausführungen über die Schule und die Rolle von Lehrern und Erziehern.
Einige Leser, die in der Diagnostik und Therapie von Kindern mit ADHS praktisch tätig sind, werden bei der Lektüre des Buches sicherlich Stellen finden, die sie inhaltlich nicht teilen bzw. nicht nachvollziehen können. Doch finden sich in dem Buch zahlreiche Aspekte, wie den Blick auf Familienstrukturen und die Einforderung von pädagogischen Therapien, die gelungen formuliert sind. Insgesamt ist das Buch gut lesbar und versucht durch Beispiele die theoretischen Annahmen der Psychodynamik begreifbar zu machen, was auch gut gelingt.