Lese- Rechtschreibstörungen von Andreas Mayer

Fachbücher über Legasthenie, die von ihrer Seitenanzahl über den Typus „kompaktes Büchlein“ hinausgehen und sich mit einer ausreichenden Tiefe den Themen Ätiologie, Diagnostik und Therapie widmen, gibt es gemessen an der Anzahl der Publikationen, die unter dem Label Therapiematerial veröffentlicht werden, vergleichsweise wenig.Im Ernst Reinhardt Verlag ist nun ein weiteres Fachbuch zur Legasthenie erschienen. Der Autor ist Andreas Mayer, Sprachheilpädagoge und mittlerweile Professor an der LMU in München. Mayer war einer der ersten Wissenschaftler, die den Aspekt der Benennungsgeschwindigkeit (RAN) bei Lesestörungen einer größeren Anzahl an Lerntherapeuten bekannt machte. So konzipierte er einen Test (TEPHOBE), um diesen wichtigen Bereich der phonologischen Verarbeitung bei Kindern mit Legasthenie zu messen und veröffentlichte mit BLIWO auch ein Trainingsprogramm, das unter anderem auch die Benennungsgeschwindigkeit trainiert.

Das Buch von Mayer trägt den Titel “Lese-Rechtschreibstörungen”, ist 268 Seiten stark und umfasst neun Kapitel. Das erste Kapitel befasst sich mit dem deutschen Schriftsystem und erläutert recht genau das phonologische und silbische Prinzip sowie das Prinzip der Morphemkonstanz. Aufgrund der dargestellten Eigenschaften der deutschen Schriftsprache erkennt der Leser recht schnell, wo und warum Therapieprogramme bzw. Therapiebausteine z.B. am Silbenprinzip ansetzen.

Das zweite Kapitel ist mit “Der ungestörte Schriftspracherwerb” überschrieben. Hier geht Mayer auf die wichtigsten Modelle des Lesens und Schreibens ein. Der Autor erläutert jedoch nicht nur den unproblematischen Erwerb des Lesens und Schreibens, sondern erklärt an vielen Stellen im Text, wie man anhand dieser Modelle die Symptomatik der Legasthenie beschreiben kann. Sehr gut. Vorgestellt wird u.a. das Dual-Route-Modell (Zwei-Wege-Modell) nach Coltheart. Weiterhin wird das konnektionistische Modell der Worterkennung nach Seidenberg erläutert. Als drittes Modell wird das Modell des Simple View of Reading dargestellt, das auch erklärt, warum ein Teil der Kinder Probleme beim Leseverständnis aufweisen.

Mayer stellt in diesem Kapitel recht schön die Kritik und die Erweiterungen des Dual-Route-Modells dar. Das Doual-Route-Modell selbst wird recht komplex beschrieben (inklusive phonologischer Schleife, phonologischer Rohform und syntaktischem Zusammenhang), was für den fortgeschrittenen Leser recht interessant ist.

Das dritte Kapitel ist sehr zweckmäßig aufgebaut. Inhaltlich stellt der Autor hier eine selbst konzipierte Definition der Lese-Rechtschreibstörung dar. Im weiteren Verlauf geht dann Mayer auf die einzelnen Komponenten seiner Definition ein und untermauert diese Aspekte durch Studienergebnisse. Sehr schön ist, dass Mayer auch auf die aktuellen Bemühungen in der Wissenschaft eingeht (DSM-5, deutschsprachige Leitlinien), das Diskrepanzkriterium nicht mehr zu verwenden. Letztlich muss man feststellen, dass diese Bemühungen, die diagnostischen Kriterien dem aktuellen Forschungsstand anzupassen, zum Leidwesen zahlreicher Kinder noch nicht in allen kinder-und jugendpsychiatrischen Praxen und Jugendämtern angekommen sind.

Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der Ätiologie. Bei den Ursachen der Lese-Rechtschreibstörung gibt es zahlreiche Theorien und Ansätze und noch mehr Befunde und empirische Daten. Dabei ist die Befundlage alles andere als eindeutig und ein Lerntherapeut, der sich nicht intensiv mit den Forschungsergebnissen auseinandersetzt, hat es auch oft schwer, die einzelnen spezifischen Befunde mit dem Lese- und Schreibprozess in Verbindung zu bringen. Umso erstaunlicher ist es, dass es dem verantwortlichen Autor für dieses Kapitel, Prof. Sven Lindberg gelingt, die Fülle an Befunden auf 13 Seiten verständlich zusammenzufassen, einzuordnen und zu bewerten. Äußerst gelungen.

Auch das fünfte Kapitel bietet dem Leser sehr detaillierte Informationen über einen ätiologischen Bereich der Legasthenie, nämlich den der phonologischen Informationsverarbeitung. Mayer behandelt hier alle drei Aspekte: das Arbeitsgedächtnis, die phonologische Bewusstheit und die Benennungsgeschwindigkeit. Sehr schön werden bei jedem dieser Bereiche die Relevanz für den Leseprozess herausgearbeitet und zahlreiche Studien zitiert, die Defizite bei Kindern mit Legasthenie in den entsprechenden Bereichen feststellten. Weiterhin werden Studien über das Training der phonologischen Bewusstheit und der Benennungsgeschwindigkeit sowie des Arbeitsgedächtnisses kurz beschrieben bzw. genannt.

Im siebten Kapitel werden insgesamt sieben Lese- und Rechtschreibtests beschrieben. Dies ist natürlich weit von einem vollständigen Überblick entfernt. Bezüglich der Lesetests fehlt leider der ZLT-II und bei den Rechtschreibtests wird kein Verfahren aus der WRT-Reihe berücksichtigt. Bei den beschriebenenVerfahren finden sich jeweils die Unterkapitel „Überprüfungen“ (was misst der Test?), „Auswertung“ und „Testgütekriterien“. Die dargestellten Tests werden vom Autor gut beschrieben und soweit angebracht, finden sich auch ein paar kritische Anmerkungen.

Das achte Kapitel ist mit „Förderung im Rahmen des Unterrichts“ überschrieben. Hier werden sehr viele Therapiebausteine zur Verbesserung des Lesens, des Leseverständnisses und des Rechtschreibens vorgestellt. Inhaltlich richtet sich das Kapitel vornehmlich an Lehrer, die ihren „Ersteleseunterricht“ für Kinder mit Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Schreibens möglichst erfolgreich gestalten wollen. Die Ausführlichkeit zeigt sich auch in der Seitenzahl, die mit 40 Seiten doch recht umfassend ist.

Ebenfalls sehr ausführlich sind die Beschreibungen der zehn Therapieprogramme im letzten Kapitel, darunter auch die Pro-gramme „Wortbaustelle“, „Das Potsdamer Lesetraining“ und „IntraActPlus“. Durch die genauen Beschreibungen der einzelnen Übungen, der Darstellung von Evaluationsstudien und auch die kritischen Kommentare des Autors erhält der Leser einen guten Eindruck der vorgestellten Trainingsprogramme.

Das Buch „Lese- Rechtschreibstörungen“ von Andreas Mayer ist eine sehr gelungene Veröffentlichung, die problemlos empfohlen werden kann. Auf der Habenseite steht eine sehr ausführliche und verständliche Darstellung der Ätiologie, die aktuell und wissenschaftlich fundiert ist, und allgemein die detaillierte Darstellung der behandelten Inhalte. Insgesamt ein sehr gutes Nachschlagewerk, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist.

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Gekürzte Rezension aus dem Journal für Legasthenietherapie
Andreas Mayer (2016). Lese-Rechtschreibstörungen. Ernst Reinhardt Verlag: München.