Dyskalkulie

1. Definition der Dyskalkulie

Im ICD-10 wird Dyskalkulie als Rechenstörung beschrieben und mit der Ziffer F81.2 kodiert. Als Synonym wird häufig auch der Begriff Rechenswäche verwendet. Nach der Definition des ICD-10 dürfen die Rechenschwierigkeiten nicht durch eine generelle Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar sein.

2. Symptome

Die Schwierigkeiten im Rechnen bestehen bei den allermeisten Kindern von Schulbeginn an. In der Regel sind Schwierigkeiten beim Kopfrechnen zu diagnostizieren, die sich in allen vier Grundrechenarten zeigen. Bei der Addition und Subtraktion ist häufig der Zahlenraum bis 10 nicht automatisiert und das Wissen über Rechenstrategien ist gering. Kennzeichnend für Kinder mit mangelnden Kopfrechenfähigkeiten ist, dass diese beim Rechnen von Plus- und Minusaufgaben

  • die Finger benutzen und
  • der Zehnerübergang oft nicht gelingt.

Weiterhin zeigen sich Probleme……

  • beim Abruf numerischen Faktenwissens (Beispiel: Aufgaben wie 5+3 oder 5×5 sollten auswendig gekonnt und nicht erst mühsam berechnet werden),
  • beim prozeduralen Faktenwissen (Beispiel: schriftliche Lösungswege der Subtraktion oder Multiplikation werden nicht beherrscht).
  • beim Lösen von Textaufgaben,
  • Zahlendreher beim Aussprechen von zweistelligen Zahlen (z.B. „zweiundfünfzig“ anstatt „fünfundzwanzig“,
  • beim Aufschreiben von Zahlen (180 für „einhundertacht“ oder 30020 für „dreihundertzwanzig“),
  • beim Mengenbegriff,
  • beim Umrechnen von Maßen und
  • ein geringes Verständnis hinsichtlich des Stellenwertsystems

3. Prävalenz

Allgemein wird (wie bei der Legasthenie) eine Prävalenz von 5 Prozent angenommen. Studien weisen darauf hin, dass in etwa gleich viele Jungen wie Mädchen betroffen sind. Unter der Anwendung des doppelten Diskrepanzkriteriums (Rechenleistung 1 1/2 Standardabweichungen unter der Klassennorm und Intelligenzleistung 1 1/2 Standardabweichungen besser als die Rechenleistung) findet Esser et al. (2007) eine Häufigkeit der Dyskalkulie von 1,8 Prozent. Die meisten Studien geben jedoch Prävalenzraten von 4 bis 6 Prozent an.

Der Anteil von förderungsbedürftigen Schülern schätzen Lorenz & Radatz (1993) jedoch deutlich höher ein. Die beiden Wissenschaftler gehen von ca. 15 Prozent der Schüler aus, die von einer Förderung profitieren könnten.

Aster et al. (2007) stellten bei einer Untersuchung 337 Kindern mit Rechenstörung, die die zweite Klasse besuchten, ca. 70 Prozent auch eine Legasthenie hatten.

4. Subtypen der Dyskalkulie

Von Aster unterscheidet drei Subtypen der Dyskalkulie:

  • tiefgreifender Subtyp: beschreibt Kinder, die in allen drei Skalen des ZAREKI mindestens 1,5 Standardabweichungen unterhalb des Mittelwertes liegen.
  • sprachlicher Subtyp: Betroffene weisen ausschließlich Fehler bei einfachen Kopfrechenaufgaben (Addition und Subtraktion), beim Abzählen von Mengen und beim Rückwärtszählen auf.
  • arabischer Subtyp: Kinder haben Schwierigkeiten Zahlwörter richtig als Zahlen zu transkodieren.

Auch Geary (1993) postulierte drei Subtypen:

  • Den Semantic Memory-Type, der Schwierigkeiten hat, mathematische Fakten (z.B. aus dem Bereich des Einmaleins) aus dem Gedächtnis abzurufen. Er begeht unverhältnismäßig viele Fehler. Ätiologisch werden Funktionsdefizite der linkhemisphärischen posterioren Regionen angenommen.
  • Der Procedural-Type verwendet nicht altersgemäße Rechenstrategien. Auch hier werden linkshemisphärische Funktionsdefizite angenommen.
  • Der Visuospatial-Type begeht Fehler, die aus Verschiebungen beim Untereinanderschreiben von Zahlen und aus der Falschbewertung einer Ziffer innerhalb einer Zahl ergeben. Bei diesem Subtyp werden rechtshemisphärische Beeinträchtigungen angenommen.

Blanz, Remschmidt, Schmidt und Warnke (2006) unterscheiden allgemein zwischen zwei Subtypen

  • Subtyp A: Rechenstörung und ausreichend gute Leistungen im Lesen und Schreiben
  • Subtyp RS: Neben der Dyskalkulie findet sich auch eine Legasthenie. Im ICD-10 wird dieser kombinierte Typus mit F81.3 kodiert. Blanz et al. (2006) weisen darauf hin, dass man beim Subtyp RS in klinischen Gruppen bei ca. 40 Prozent der Kinder auch eine Aufmerksamkeitsstörung gefunden hat.

5. Ätiologie

Auf der Suche nach ätiologischen Faktoren für die Dyskalkulie konzentrierten sich insbesondere Sonderpädagogen auf mögliche Korrelate, die eine vermeintliche Relevanz für spätere schulische Leistungen aufweisen. Johnson und Myklebust (1971) sahen dementsprechend

  • Störungen des Körperschemas
  • visuo-motorische Integrationsstörungen
  • räumlich-visuelle Erfassungs- und Vorstellungsschwächen,

die wiederum durch die motorischen und taktil-kinästhetischen Erfahrungen determiniert sind, als ätiologische Bedingungen für die Dyskalkulie an. Entsprechend wird eine Verbesserung der Rechenleistung durch eine heilpädagogische Übungsbehandlung erwartet, die psychomotorische Übungen und Programme zur Förderung der taktilen Wahrnehmung beinhalten.

Nach Lorenz (2003) brachte die Fehleranalyse folgende Schwierigkeiten bei Kindern mit Dyskalkulie zu Tage

  • mangelndes Sprach- und Textverständnis
  • Schwierigkeiten bei der Analyse von Veranschaulichungsmitteln und Diagrammen
  • Nichtberücksichtigung relevanter Bedingungen oder die Hinzunahme falscher Informationen auf Grund subjektiver Vorstellungen.

Therapie: Didaktische Maßnahmen, die sich an der individuellen Fehlerstrategie des Kindes orientieren.

Die neuropsychologische Forschung konnte folgende Bereiche herausarbeiten, die für die Ätiologie der Rechenstörung als relevant angesehen werden (Lorenz 2003):

  • Probleme im taktil-kinästhetischen Bereich,
  • Störungen in der auditiven Wahrnehmung, Speicherung und Serialität,
  • eine dysfuktionale visuelle Wahrnehmung, Speicherung und Serialität,
  • Störungen der Intermodalität.
Dysfunktionale kognitive Faktorenführen zu Schwächen in folgenden Bereichen
Frühkindliche Störungen im taktil-kinästhetischen BereichStörung des Körperschemas, Schwierigkeiten der Rechts-Links-Unterscheidung, Raumorientierungsprobleme
Auditive StörungenSchwierigkeiten bei der Speicherung von Zahlen, Aufgaben und Zwischenergebnissen
Störungen im visuellen BereichSchwierigkeiten bei der Vorstellung räumlicher Beziehungen

Therapie: Förderprogramme, die die zugrundeliegenden Störungen verringern. Damit einhergehend wird eine entsprechende Verbesserung der mathematischen Leistungen erwartet.

6. Diagnostik der Dyskalkulie

In der Vorschule zeigen sich nach Esser (2008) Raumorientierungsschwächen, Probleme beim Erkennen von Richtungen und Schwierigkeiten bei der Erfassung von Mengen und Größen. Während der Grundschulzeit fallen in erster Linie Probleme beim Kopfrechnen und große Probleme beim Lösen von Textaufgaben auf.

Um diese Schwiergkeiten zu erfassen ist eine ausführliche Anamnese der Eltern und des Kindes notwendig. Um die Rechenleistungen zu quantifizieren, wird weiterhin ein Rechentest wie der HRT 1-4 durchgeführt. Das Ergebnis des Rechentests wird dann mit der Intelligenzleistung in Beziehung gesetzt, die mittels Intelligenztest erhoben wird. Hierdurch sollen Aussagen über erwartungswidrige Rechenleistungen getroffen werde. Die Differenz der t-Werte zwischen Intelligenz- und Rechentest wird maßgeblich zur Validierung der Dyskalkuliediagnose herangezogen. Petermann und Jacobs (2007) weisen darauf hin, dass bei der Verdachtsdiagnose Dyskalkulie der CFT als Intelligenztest nicht verwendet werden sollte.

Neben dem HRT 1-4 gibt es weitere Rechentests wie zum Beispiel die Verfahren der DEMAT-Reihe oder die Eggenberger Rechentests.

7. Therapeutische Interventionen

Im Bereich der Dyskalkulie (Rechenstörung) ist die Anzahl von Therapiemanualen noch sehr gering. Vereinzelt wurden Trainingsprogramme entwickelt, die jeweils spezifische Fertigkeiten trainieren (z.B. Einmaleins oder Textaufgaben). Fast alle Materialien sind so konzipiert, dass direkt am Symptom gearbeitet wird, d.h. die Fähigkeit Textaufgaben zu lösen, wird an Textaufgaben trainiert, für das Lösen von Plusaufgaben müssen Additionsaufgaben gelöst werden.

Gute Fortschritte lassen sich (nach eigenen Erfahrungen) in der Regel mit den Therapieprogrammen Münchner Rechentraining (Kopfrechnen Addition und Subtraktion), Training Einmaleins, und Lehrgang Textaufgaben erzielen.  Ein gut aufbereitetes Therapieprogramm ist auch der Hamburger Zahlbegriffs- und Rechenaufbau von Claus und Peters (2005), der den Zahlenraum bis 10 behandelt.

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Quellen
Blanz, B., Remschmidt, H., Schmidt, M. & Warnke, A. (2006). Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter. Stuttgart: Schattauer.
Claus, H. & Peter, J. (2005). Finger, Bilder, Rechnen. Förderung des Zahlenverständnisses im Zahlenraum bis 10. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Esser, G., Wyschkon, A. & Schmidt, M.H. (2007). Basisdiagnostik umschriebener Entwicklungsstörungen im Grundschulalter (BUEGA). Göttingen: Hogrefe.
Esser, G. (2008). Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Thieme.
Jacobs, C. & Petermann, F. (2007). Rechenstörungen: Leitfaden der Kinder- und Jugendpsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.
Von Aster, M., Schweiter, M., Weinhold Zulauf, M. (2007). Rechenstörungen bei Kindern: Vorläufer, Prävalenz und psychische Symptome. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 39, 85-96.