Längere kognitive Verarbeitungsprozesse führen zu erhöhter Lesezeit

Martelli et al interessierten sich dafür, aus welchen Komponenten sich die Lesezeit zusammensetzt und ob sich hier Unterschiede zwischen Kindern mit Legasthenie und Kindern ohne LRS zeigen.

Das Lesen aus mehreren Komponenten. Martelli et al. unterscheiden hier zwischen Reaktionszeiten und der Zeit für die Aussprache. Unter der Reaktionszeit verstehen die Wissenschaftler, die Zeit von der visuellen Repräsentation eines Wortes bis zum Beginn der Aussprache und unter der Aussprache die Zeit vom Aussprachebeginn bis zum Ende der Aussprache. Während der Reaktionszeit finden entsprechend die visuelle Wahrnehmung,
weitere kognitive Prozesse (z.B. der lexikalische Zugriff) und die Vorbereitung der motorischen Prozesse der Aussprache statt.

An der Studie nahmen 25 Kinder mit Legasthenie zwischen 10,5 und 13,3 Jahre teil. Martelli et al. geben in ihrer Studie die Lesegeschwindigkeit auch in Sekunden pro Silbe an, nämlich 0,23 sec/syl gegenüber 0,51 sec/syl bei den Teilnehmern der Kontrollgruppe. Die Aufgabe für die Studienteilnehmer bestand darin, Wörter am Bildschirm laut zu lesen, während die Zeit für die beiden Komponenten registriert wurde. Die italienischen Wissenschaftler untersuchten in ihrem Experiment auch den Einfluss der Wortlänge auf die Lesezeit und ob es Unterschiede in der Verarbeitung von Pseudo- und realen Wörtern gibt.

Wie nicht anders zu erwarten waren die Lesezeiten bei den Kindern mit Legasthenie länger als bei den Kontrollkindern. So lagen die Lesenzeiten bei den Kontrollkindern zwischen 900 und 1100 ms, wobei die durchschnittlichen Lesewerte für Wörter mit vier Buchstaben bei 900 ms lagen und für Wörter mit sieben Buchstaben leicht auf 1100 ms anstiegen. Die durchschnittlichen Lesezeiten für die Kinder mit Legasthenie lagen bei ca. 1200 ms und stiegen dann für die Lesewörter mit sieben Buchstaben bis auf durchschnittliche 1700 ms an. Insgesamt war der Einfluss der Wortlänge bei den Kindern mit Legasthenie deutlich stärker ausgeprägt. Bei den Pseudowörtern zeigte sich ein fast ähnliches Bild mit vergleichbaren Werten. Nur der Einfluss der Wortlänge war noch etwas stärker ausgeprägt.

Die Zeit für die Komponente “Aussprache” war für beide Probandengruppen gleich. Hier zeigte sich kein Einfluss der Legastheniesymptomatik. Ebenfalls zeigte sich kein Einfluss der Wortart (Wort vs. Pseudowort) auf die Aussprachezeit. Auch die Wortlänge wies nur einen geringen Einfluss auf.

Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Gruppen lag entsprechend in der Komponente Reaktionszeit. Hier waren die Zeiten für die Schüler mit einer Legasthenie deutlich höher.

Interessant auch, dass sich bei Kindern der Kontrollgruppe bei den realen Wörtern kein Einfluss der Wortlänge zeigte. Alle gemessenen Reaktionszeiten lagen auf einem Niveau von fast genau 500 ms. Bei den Kinder mit Legasthenie war dies anders. Hier zeigte sich ein Einfluss der Wortlänge, wodurch die Reaktionszeiten von knapp 800 auf fast 1200 anstiegen. Bei den Pseudowörtern waren die Zeiten fast vergleichbar.

Die italienischen Wissenschaftler konnten zeigen, dass der wesentliche Teil der Lesezeit auf das Erkennen und weitere kognitive Prozesse verwendet wird. Hier zeigten sich zwischen den Gruppen deutliche Unterschiede, wobei die Kinder mit Legasthenie erhöhte Lesezeiten aufwiesen. Ebenfalls deutlich messbar war der Einfluss des Längeneffekts von Worten, der bei den Schülern mit Legasthenie zu deutlich schlechteren Werten führt. Dieser Längeneffekt zeigte sich bei den Kontrollprobanden nicht.

Martelli, M., De Luca, M., Lami, L., Pizzoli, C., Pontillo, M., Spinelli, D. & Zoccolotti, P. (2014). Bridging the gap between different measures of the reading speed deficit in developmental dyslexia. Experimental Brain Research, 232, 237-252.