Wie wird der weitere schulische Verlauf und später der berufliche Lebensweg meiner Schüler sein, die bei mir in Therapie sind? Diese Frage stellen sich sicherlich zahlreiche Therapeuten, wenn sich eine therapeutische Beziehung entwickelt oder sich die LRS-Therapie ihrem Ende nähert. Auch Monika Brunsting stellte sich wohl diese Fragen und verfasste zu diesem Thema ein Buch. Darin finden sich halbstrukturierte Interviews mit Erwachsenen mit Legasthenie über ihre beruflichen und schulischen Erfahrungen.
Monika Brunsting hat Heilpädagogik und Psychologie studiert und absolvierte eine Therapieausbildung. Sie arbeitete in mehreren Bereichen, beispielsweise als Schulpsychologin, Lern- und Psychotherapeutin und leitet aktuell das Nordostschweizer Institut für Lernfragen.
Ihr Buch trägt den Titel „Legasthenie zwischen Coming-out und keiner merkts“ und den Untertitel „Wie man mit Dyslexie zu-rechtkommen kann: Erwachsene Betroffene berichten“. Es ist im Haupt Verlag erschienen und die Seitenzahl beträgt 198 Seiten.
Sehr wichtig ist der Autorin nicht nur die Darstellung der Erlebnisse und Erfahrungen der insgesamt sieben Erwachsenen, sondern auch Ansatzpunkte für einen erfolgreichen Umgang mit Legasthenie herauszuarbeiten. Hier orientiert sich Brunsting an den zehn wichtigsten sogenannten Charakterstärken, die Prof. Willibald Ruch von der Universität Zürich zusammengestellt hat. Die fünf wichtigsten Charaktereigenschaften sind Hoffnung, Begeisterungsfähigkeit, Bindungsfähigkeit, Neugier und Ausdauer. Wer über diese fünf Charaktereigenschaften verfügt, sollte die Aufgaben, die sich im Leben stellen, besser bewältigen können.
Das Konzept der Charaktereigenschaften stammt aus der Positiven Psychologie, die sehr eng mit der Resilienzforschung verknüpft ist. Unter Resilienz versteht man die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und die entsprechende Forschung sucht nach den dafür verantwortlichen Persönlichkeitseigenschaften und (kognitiven) Verhaltensweisen.
Nach einem orientierenden Einleitungskapitel widmet sich das zweite Kapitel den theoretischen Grundlagen. Im ersten Unterkapitel Neurowissenschaften und Lernpsychologie wird unter anderem herausgearbeitet, was für Lernen benötigt wird, wie beispielsweise ausreichend viele Durchgänge zum Lernen von Inhalten und eine angstfreie Lernumgebung.
Das nächste Unterkapitel beschäftigt sich mit den exekutiven Funktionen und erläutert, warum diese für das Lernen wichtig sind. Hierzu zählen zum Beispiel die Fähigkeit zur Selbstregulation und die Selbststeuerung der Aufmerksamkeit.
Das dritte Kapitel widmet sich dem schon oben genannten Thema der Positiven Psychologie und der Resilienzforschung. Hier werden die zehn wichtigsten Charakterstärken auf insgesamt elf Seiten ausführlich beschrieben. Lesenswert.
Jedes geführte Gespräch in dem Buch von Monika Brunsting macht Aussagen zu den folgenden Themen, die bei der Wiedergabe der Gespräche auch die Zwischenüberschriften darstellen: Schulerinnerungen, Lernerfolge, Schullaufbahn, Unterstützung, „Das half mir“, „Dafür bin ich dank-bar“ und „Das brachte den Durchbruch/ die Wende“
Die Mitschriften der Gespräche nehmen mit 107 Seiten den größten Raum des Buches ein. Sie sind in der Ich-Perspektive verfasst und sind jeweils sechs bis sieben Seiten lang. Im Anschluss führt Brunsting mehrere Auswertungen durch. In einem ersten Schritt werden die relevanten Inhalte zusammengefasst, wobei auch hier die Zwischenüberschriften als Strukturierung dienen. In einem zweiten Schritt wird das Erzählte den einzelnen exekutiven Funktionen, wie z.B. der Selbstregulation, der Handlungsplanung, der Organisation des Verhaltens, dem Zeitmanagement oder der Handlungskontrolle zugeordnet.
In einem letzten Schritt werden die Gesprächsinhalte hinsichtlich der Verhaltensweisen der Positiven Psychologie untersucht. Wiederum sehr interessant zu lesen.
Die dargestellten Fälle reichen von einer 24jährigen jungen Frau, die sich in der Ausbildung zur diplomierten Hotelfachfrau befindet, bis zum 50jährigen Unternehmer aus dem handwerklichen Bereich. Interessant sind auch die Ausführungen zu den oft negativen Schulerlebnissen. So lässt sich gut nachvollziehen, wie heutzutage Schüler mit Legasthenie manche Schulstunde erleben.
Das vierte Kapitel ist mit „Was man daraus lernen kann“ überschrieben. Es beginnt mit achtzehn sogenannten LRS-Mythen, wie z.B. wer eine LRS habe, wäre nicht begabt genug für eine höhere Schule. Zu allen Aussagen nimmt die Autorin recht kompetent Stellung. Ebenfalls lesenswert.
Die nächsten beiden Unterkapitel gehen auf die exekutiven Funktionen und die Inhalte der Positiven Psychologie ein. Ein kompaktes Fazit unter jedem einzelnen Aspekt weist auf Themen hin, die auch in der Therapie wichtig sein können.
Das Buch von Monika Brunsting bietet Einsichten in Verhaltensweisen, schulisches Erleben und den beruflichen Werdegang von Personen mit Legasthenie. Dies allein stellt einen wichtigen Inhalt dar. Doch die Autorin macht einen weiteren Schritt und untersucht die einzelnen Lebensläufe hinsichtlich der exekutiven Funktionen und den umgesetzten Verhaltensweisen der Positiven Psychologie. Durch diese wissenschaftliche, wenn auch nicht empirische Arbeit zeigen sich für den Leser auch Ansatzpunkte für seine eigene therapeutische Arbeit. Das Buch liest sich insgesamt sehr gut und man spürt beim Lesen, dass sich die Autorin seit vielen Jahren mit der Thematik praktisch und auch theoretisch auseinandersetzt. Insgesamt eine klare Empfehlung, die sich von den sonstigen veröffentlichten Fachbüchern über Legasthenie inhaltlich unterscheidet, indem das innere Erleben der Menschen mit Legasthenie in den Mittelpunkt gestellt wird.
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Monika Brunsting (2016). Legasthenie zwischen Coming-out und keiner merkts. Bern: Haupt Verlag ISBN-13: 978-3-258-07981-3.