Auffälligkeiten im IQ bei vierjährigen Kindern mit späterer Legasthenie

Eine Legasthenie wird als erwartungswidrige Leseleistung definiert. Dabei wird die Erwartung, wie gut Leseleistungen beim Einzelnen sein sollen, vom individuellen IQ bestimmt, der bei einem Kind mit Legasthenie unauffällig sein sollte. Auf dieser Voraussetzung basiert auch die Diskrepanzdiagnostik, bei der die Leseleistungen in Bezug zum IQ gesetzt werden.

Wissenschaftler aus Holland um van Bergen, de Jong und van der Leij untersuchten nun, ob der IQ von Kindern mit Legasthenie wirklich unauffällig ist. Dabei untersuchten sie den IQ von Kindern im Alter von 4 Jahren, sodass ein eventuell negativer Einfluss auf den IQ durch die spätere Legastheniesymptomatik nach der Einschulung ausgeschlossen werden kann.

Van Bergen et al. bildeten drei Gruppen. In der ersten Gruppe (n = 44) befanden sich LRS-Risikokinder, die später eine Legasthenie entwickelten. In der zweiten Gruppe (n = 100) befanden sich ebenfalls LRS-Risikokinder, die im Schulalter jedoch keine Legastheniesymptomatik zeigten und in der Kontrollgruppe (n = 68) befanden sich Kinder ohne LRS-Risiko, die im Schulalter ebenfalls keine Legasthenie aufwiesen. Ob eine Legasthenie vorlag, wurde am Ende der zweiten Klasse durch einen normierten Lesetest festgestellt (Kriterium: Leseleistung < PR 10). Um als LRS-Risikokind eingestuft zu werden, musste ein Elternteil und eine weitere Person aus der engen Verwandtschaft eine Legastheniediagnose aufweisen.

Bei dem IQ Test wurden mehrere Subtests zur Erfassung des nonverbalen und verbalen IQ durchgeführt. Zur Messung des nonverbalen IQ musste beispielsweise ein abstraktes Linienmuster kopiert, ein Puzzle zusammengesetzt oder Objekte auf
Bildern der richtigen Kategorie (z. B. Früchte) zugeordnet werden. Zur Erfassung des verbalen IQ wurden u. a. das Sprachverständnis, der Wortschatz und das verbale Kurzzeitgedächtnis (Wörter nachsprechen) überprüft. Aussagen über
den Gesamt-IQ finden sich in der Studie nicht.

Bezüglich des nonverbalen IQ wiesen die vierjährigen LRSRisikokinder, die später keine Legasthenie aufwiesen, gleich gute Werte wie die Kinder in der Kontrollgruppe auf. Hingegen zeigten die LRS-Risikokinder, die tatsächlich später eine Legasthenie entwickelten, deutlich schlechtere Leistungen in den Subtests zur Messung der nonverbalen Intelligenztests. Daraus kann man folgern, dass LRS-Risikokinder, die eine gute nonverbale Intelligenz besitzen ein geringeres Risiko aufweisen, im Schulalter eine Legasthenie zu entwickeln, als LRS-Risikokinder mit einem schlechten nonverbalen IQ.

Hinsichtlich des verbalen IQ zeigten die vierjährigen Risikokinder mit späterer  Legasthenie deutlich schlechtere Testwerte als die Kinder der Kontrollgruppe. Die LRS-Risikokinder, die später keine Legasthenie entwickelten, lagen mit ihren verbalen Intelligenzleistungen zwischen den Kindern mit späterer Legasthenie und den Kindern der Kontrollgruppe.

Die holländischen Wissenschaftler zeigten, dass sich vierjährige LRS-Risikokinder, die später eine Legasthenie entwickeln, in ihrem IQ deutlich von Kindern unterscheiden, die später keine Legastheniediagnose aufweisen.

Quelle:
Van Bergen, E., de Jong, P.F., Maasen, B., Krikhaar, E., Plakas, A. & van der Leij, A. (2013). IQ of four-year-olds who go on to develop dyslexia. Journal of Learning Disabilities, 47, 475-484.