Phonologische Bewusstheit

1. Was ist die phonologische Bewusstheit?

Die phonologische Bewusstheit beschreibt eine bestimmte Form der Sprachbewusstheit und stellt einen wichtigen  Teilbereich der sogenannten phonologischen Informationsverarbeitung dar.

Mannhaupt und Jansen (1989) beschreiben phonologische Bewusstheit als Phänomen, dass Sprache als distinkte lautliche Einheiten wahrgenommen und mit diesen lautlichen Einheiten analytisch und synthetisch umgegangen werden kann. Barth und Gomm (2014) beschreiben die phonologische Bewusstheit etwas anschaulicher, nämlich als „Fähigkeit des Kindes, Einsicht in den lautlichen Aufbau der Sprache zu gewinnen“.

Unter der phonologischen Bewusstheit fallen z.B. folgende Fähigkeiten:

  • ein Wort in Laute zu zerlegen,
  • erste Laute eines Wortes zu benennen,
  • zu unterscheiden, ob ein Laut kurz oder lang ausgesprochen wird oder
  • ob sich bestimmte Wörter reimen.

Weiterhin unterscheidet man zwischen der phonologischen Bewusstheit im engeren Sinn und der phonologischen Bewusstheit im weiteren Sinn.

  • im engeren Sinn: Umgang mit Lauten und Phonen, also kleineren linguistischen Einheiten. Aufgaben für diesen Bereich wären z.B. Aufgaben zum Zusammenschleifen („Um welches Wort handelt es sich hier? H-A-S-E“), die Analyse des anlautenden Phonems („Nenne mir den Anfangslaut des abgebildeten Wortes“) und der Phonemsegmentierung („Nenne mir den zweiten Laut in Sonne!“).
  • im weiteren Sinne: Aufgaben beziehen sich auf Wörter und Silben, also größere linguistische Einheiten; z.B. Reimaufgaben („Reimen sich die beiden Wörter Hase und Vase?“) oder Silbenzählen („Wieviel Silben hörst du in dem Wort Maschine?“).

Scheerer-Neumann (2015) weist darauf hin, dass der Schweregrad der einzelnen Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit unterschiedlich ist. So sind die Aufgaben zur Anlautanalyse und des Heraushörens von vorgegebenen Lauten im Vergleich zu Aufgaben, bei denen Laute manipuliert werden müssen („Ersetze den ersten Vokal durch ein u“), deutlich leichter.

Die phonologische Bewusstheit ist ein Bereich der sogenannten phonologischen Fertigkeiten, wobei man annimmt, dass geringere Leistungen bei den phonologischen Fertigkeiten einen wichtigen ätiologischer Faktor der Legasthenie darstellen. Zur sogenannten phonologischen Defizithypothese der Legasthenie zählen neben einer geringen phonologischen Bewusstheit, eine geringe Benennungsgeschwindigkeit und Defizite im verbalen Arbeitsgedächtnis.

In Deutschland steht die phonologische Bewusstheit im Zusammenhang mit Legasthenie besonders im Mittelpunkt des Interesses. International ist dies nicht so. Hier findet man genauso viele Studien zur Benennungsgeschwindigkeit und zum verbalen Arbeitsgedächtnis, wie zum Bereich der phonologischen Bewusstheit.

2. Phonologische Bewusstheit und Legasthenie

Bezüglich der Legasthenie nimmt die phonologische Bewusstheit einen besonderen Stellenwert ein, nämlich für die Diagnostik und die Therapie.

Im Rahmen der multifaktoriellen Ätiologie der Legasthenie spielt im Kindergartenalter die phonologische Bewusstheit vermutlich die wichtigste Rolle. Andere Faktoren wie Arbeitsgedächtnis, Wortschatz und visuelle Faktoren spielen zu diesem Zeitpunkt eine untergeordnete Rolle (Melby-Lervag & Lervag, 2012).

Die Diagnostik der phonologischen Bewusstheit ist insbesondere im Kindergartenalter relevant. Zahlreiche Studien zeigten, dass eine geringe phonologische Bewusstheit im Kindergartenalter zu einem zu einem höheren Risiko führt, später eine Legasthenie zu entwickeln (Melby-Lervag, Lyster & Hulme, 2012). Eine Legasthenie im Schulalter lässt sich mit Einschränkungen also schon im Kindergartenalter feststellen

Auch die Therapie der phonologische Bewusstheit stellt einen zentralen Baustein bei therapeutischen Maßnahmen im Bereich der LRS-Prävention im Kindergartenalter dar. So hat sich gezeigt, dass ein Training im Bereich der phonologischen Bewusstheit das Auftreten bzw. die Intensität der späteren Probleme im Lesen und Schreiben verhindert bzw. verringert. Ein entsprechendes Trainingsprogramm ist beispielsweise das Würzburger Trainingsprogramm.

Während man in Deutschland sich in der Forschung und Therapie besonders intensiv mit der phonologischen Bewusstheit beschäftigt, steht international in der Therapie die gesamte phonologische Verarbeitung im Interesse des Therapeuten. Hierzu gehört dann neben der phonologischen Bewusstheit beispielsweise auch die Benennungsgeschwindigkeit von Buchstaben, Gegenständen und Farben. Die Benennungsgeschwindigkeit (rapid naming) stellt ein Maß für die Geschwindigkeit des Abrufs aus dem semantischen Gedächtnis dar. Die Benenungsgeschwindigkeit ist insbesondere relevant für das Lesen lernen. Zeigen sich Probleme in der phonologischen Verarbeitung bei Kindern mit Legasthenie spricht man auch vom phonologischen Defizit der Legasthenie.

Während es mehrfach belegt ist, dass ein Training der phonologischen Bewusstheit im Kindergartenalter insbesondere bei LRS-Risikokindern sinnvoll ist, wird die Sinnhaftigkeit dieses Trainings bei älteren Schülern kontrovers diskutiert. Allgemein gilt, dass die phonologische Bewusstheit (auch bei Kindern mit Legasthenie) auch ohne entsprechendes Training von Schuljahr zu Schuljahr steigt. Wissenschaftler, die den Einsatz eines Trainings bei älteren Schüler als wenig sinnvoll ansehen, argumentieren, dass diese Schüler schon ein Niveau erreicht hätten, dass ein Training der phonologischen Bewusstheit nicht mehr sinnvoll sei.

3. Therapieprogramme zur Verbesserung der phonologischen Bewusstheit

Ein Trainingsprogramm für das letzte Kindergartenjahr ist das Würzburger Trainingsprogramm von Küspert und Schneider. Alternativ kann das Trainingsprogramm Lobo vom Globo von Koglin et al. eingesetzt werden. Ebenfalls für Vorschulkinder ist das Essener Training von Johannes Mand.

Für das erste Halbjahr der ersten Schulklasse wurde von Gerd Mannhaupt das Münsteraner Trainingsprogramm konzipiert. Es beinhaltet 80 Lerneinheiten, die jeweils 10 bis 15 Minuten dauern.

Für Schüler von der ersten bis zur vierten Klasse ist das Programm Phonit von Stock und Schneider. Ein Teil der Übungen trainiert die phonologische Bewusstheit, andere Übungen fokussieren auf die orthografische Rechtschreibstrategie.

4. Verschiedene Übungen

  • Reimerkennung: Es werden dem Schüler zwei Wörter genannt (z.B. Ball und Knall oder Strafe und Lose). Der Schüler muss dann entscheiden, ob sich die beiden Wörter reimen.
  • Silbensegmentierung: Dem Schüler wird ein Wort vorgesprochen und dieser muss dann die Silbenzahl bestimmen (Beispiel: Klassenleiter).
  • Anlautkategorisierung: Dem Schüler werden drei Wörter genannt, wobei zwei den selben Anlaut haben. Der Schüler muss herausfinden welche beiden dieser drei Wörter den selben Anlaut besitzen (Beispiel: Auto, Auge, Eule).
  • Phonemelision: Dem Schüler wird ein Wort mitgeteilt und er erhält die Aufgabe, von diesem Wort den ersten Laut wegzulassen (Beispiel: wohnen).
  • Lautersetzung: Dem Schüler wird ein Wort genannt und er bekommt die Aufgabe, einen bestimmten Laut durch einen anderen zu ersetzen (Beispiel: im Wort Banane das a durch eine u zu ersetzten).

5. Diagnostik der phonologischen Bewusstheit

In der Grundschulzeit sind phonologische Fertigkeiten insbesondere beim Erstleseprozess notwendig und beim Erlernen der alphabetischen Rechtschreibstrategie. Ein Test zur Erfassung der phonologischen Bewusstheit für die gesamte Grundschulzeit ist der BAKO 1-4 von Stock, Mark und Schneider. Im neuen ZLT-II von Petermann und Daseking findet sich auch ein Untertest, mit dem die phonologische Bewusstheit von Ende der ersten Klasse bis zur achten Klasse gemessen werden kann.

Weiterhin gibt es noch den Gruppentest zur Früherkennung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten von Barth und Gomm, der für Erstklässler in den ersten Schulwochen konzipiert wurde, aber keine detaillierten Normen sondern nur Cut-Off-Werte liefert.

6. Ursachen der phonologischen Bewusstheit

Einige Forscher haben sich die Frage gestellt, welche kognitiven Fertigkeiten der phonologischen Bewusstheit zu Grunde liegen. Im Bereich der Legasthenieforschung bedeutet das, welche zugrunde liegenden kognitiven Defizite kann man bei Kindern mit einer geringen phonologischen Bewusstheit finden. Hier kristallisierten sich in den letzten 30 Jahren (!) insgesamt zwei Bereiche heraus, nämlich

  • Defizite in der auditiven Verarbeitung von kurz aufeinander folgenden auditiven Reizen (engl. rapid temporal processing deficit, Forschungsarbeiten u.a. von Tallal) und
  • Probleme bei der Verarbeitung des Lautstärkeanstiegs von gesprochener Sprache (engl. rise-time, Studien von Goswami).

7. Studien

Schmidt et al. (2020) konnten in einer Studie zeigen, dass die Leistungsabstände bei deutschen Schülern mit und ohne Legasthenie zwischen der dritten und fünften Klasse in etwa gleich blieben. Bei der Phonemvertauschung erzielten die Schüler ohne Legasthenie in den jeweiligen Klassenstufen Werte von 9,41, 11,22 und 13,06. Die Schüler mit Legasthenie zeigten Werte in Höhe von 5,21, 7,40 und 9,11.

Quellen:
Barth, K. & Gomm, B. (2014). Gruppentest zur Früherkennung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten. Reinhardt Verlag: Basel.

Melby-Lervag, M. & Lervag, A. (2012). Oral language skills moderate nonword repetion skills in children with dyslexia: a meta-analsis of the role of nonword repetition skills in dyslexia. Scientific Studies of Reading, 16, 1-34.

Melby-Lervag, M., Lyster, S.A.H., & Hulme,  C. (2012). Phonological skills and their role in learning to read: a meta-analytic review. Psychological Bulletin, 138, 322-352.

Scheerer-Neumann, G. (2015). Lese- und Rechtschreibschwäche und Legasthenie. Kohlhammer Verlag: Stuttgart.

Schmidt, C., Brandenburg, J., Busch, J. Büttner, G., Grube, D. & Hasselhorn M. (2021). Developmental trajectories of phonological information processing in upper elementary students with reading or spelling disabilities. Reading Research Quarterly, 56. 143-171.