Legasthenie: Leistungsabstand zu unauffälligen Lesern bleibt stabil

Ein vergleichsweise geringes Forschungsfeld ist der Verlauf der Leseleistungen von Schülern mit Legasthenie im Vergleich zu Schülern ohne Probleme im Lesen und Schreiben. Im Prinzip sind zwei Szenarien denkbar, nämlich dass der Abstand in den Leseleistungen immer größer wird oder dass sich im Sinne einer Entwicklungsverzögerung die Schüler mit Legasthenie im Laufe der Jahre so verbessern, dass der Abstand zu ihren Altersgenossen immer geringer wird.

Emilio Ferrer, Bennet A. Shaywitz, Sally E. Shaywitz und weitere Wissenschaftler versuchten diese Frage anhand einer vergleichsweise großen Datenbasis zu beantworten. Es handelt sich dabei um die Connecticut Longitudinal Study, bei der 414 Schüler aus Connecticut vom Kindergarten bis zur 9. Klasse wiederholt untersucht wurden.

Aus den teilnehmenden Probanden der Längsschnittstudie konnten zwei Gruppen gebildet werden: Eine Kontrollgruppe mit 335 Schülern und eine Gruppe mit Schülern mit Legasthenie, der 79 Schüler zugeordnet wurden. Jedes Schuljahr führten die Probanden drei Lesetests durch, nämlich einen Wortlesetest, bei dem die Fehler registriert wurden, einen Pseudowortlesetest, bei dem es zusätzlich eine Zeitbegrenzung gab (wie im SLRT-II) und einen Leseverständnistest. Diese drei Subtests wurden aus der Woodcock-Johnson-Testbatterie entnommen.

Bei der grafischen Auswertung aller drei Testleistungen beider Gruppen zeigte sich ein ähnlicher Kurvenverlauf. In den ersten drei Jahren zeigte sich vergleichsweise starker Anstieg, der in den folgenden Jahren abflachte. Dabei waren bei allen untersuchten drei Lesekennwerten zu jedem Messzeitpunkt die Daten der Probanden mit Legasthenie schwächer. Der Kurvenverlauf selbst unterschied sich jedoch nicht. So zeigte sich interessanterweise schon im ersten Schuljahr ein recht deutlicher Abstand, der auch in den folgenden Jahren Bestand hatte. Beim Lesen von Pseudowörtern verringerte sich der Abstand gar nicht. Im Leseverständnis und beim Lesen von Wörtern im geringen Ausmaß. So betrug der Leistungsabstand beim Leseverständnis zwischen Normallesern und Probanden mit Legasthenie in der ersten Klasse 1,46 Standardabweichungen, der sich auf 1 Standardabweichung in der neunten Klasse verringerte.

Die Daten der Studien aus den USA legen nahe, dass der Leistungsabstand in den Leseleistungen zwischen Kindern mit und ohne Legasthenie stabil bleibt. Ferrer et al. folgern daraus, dass Therapiemaßnahmen schon im Kindergarten beginnen und während des Erlernens des Leseprozesses intensiviert werden sollten. Nur so könnte der Leistungsabstand nach Meinung der Wissenschaftler verringert werden.

Quelle: Ferrer, E., Shaywitz, B.A., Holahan, J.M., Marchione, K.E., Michaels, R., Shaywitz, S.E. (2015). Achievement gap in reading is present as early as first grade and persist through adolescence. The Journal of Pediatrics, 167, 1121-1125.